Epithetik im Wandel der Zeit

Von der „Goldnase“ zur modernen Gesichtsepithese

Wann genau die Geschichte der Gesichts-Epithetik begann, bleibt vermutlich immerwährend im Dunkel der Medizinhistorie. Erste, wenn auch nur literarische Zeugnisse von „Epithesen“ (künstliche Gesichtsteile) finden sich zur Zeit der Pharaonen. Berichtet wurde z.B. von Ohren aus Wachs. Interessant erscheint die aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. stammende indische Geschichte vom Brahmanen, der seine Nase beim Schwerterkampf verlor und sich eine künstliche bemalte Nase aus Lack anfertigen ließ. Im alten China soll es Epithesen aus Wachs, Ton bzw. Holz gegeben haben, mit denen schwere Verstümmelungen durch Krankheit oder Kriegsgeschehen sehr unzulänglich und gegen Witterungseinflüsse völlig ungeschützt, verdeckt wurden.

Nasen-Lippen-Epithese nach Delabarre; zur Befestigung dienen Leinenbänder, die mit Leder überzogen und hautfarben bemalt sind.
Ölbild von Tobias Gemperlin, auf dem wie auf vielen Portraits Brahes die Nasenprothese wiedergegeben ist.

Der besonders häufig vorkommende Totalverlust des Auges führte zu einer Vielzahl an Versuchen, eine ästhetisch verträgliche Epithese z.B. aus Leder, Seide, Metall oder Tierhäuten zu formen. Helme aus Gold mit dünn getriebenen Maskeneinsätzen, die im Altertum für Krieger hergestellt wurden, sind möglicherweise nach Verletzungen auch als Epithesen getragen worden.

Erst im 16.Jahrhundert gibt es echte Zeugnisse von künstlichen Gesichtsteilen. So zeigt ein Bildnis der Prinzessin von Eboli, daß sie ein Kunstauge trug, und das Portrait des Astronomen Tycho Brahe, der bei einem Duell einen Teil seines Nasenrückens verlor, bildet eine kleine metallene Nasenepithese ab.

Zu dieser Zeit beschäftigt sich erstmals auch die medizinische Literatur mit den Möglichkeiten, einen schweren Gesichtsdefekt zu verdecken. Künstliche Nasen aus Gold oder Silber für reiche Patienten und für ärmere aus Pappmaché wurden nach Zeichnungen des Chirurgen Paré Anfang des 16. Jahrhunderts in konfektionierter und damit dem Defekt kaum angepasster Form hergestellt und mit Fäden um den Kopf gebunden. Orbita- oder Ohrenprothesen dagegen wurden mittels Federn im Hohlraum verankert.

Zu dieser Zeit beschäftigt sich erstmals auch die medizinische Literatur mit den Möglichkeiten, einen schweren Gesichtsdefekt zu verdecken. Künstliche Nasen aus Gold oder Silber für reiche Patienten und für ärmere aus Pappmaché wurden nach Zeichnungen des Chirurgen Paré Anfang des 16. Jahrhunderts in konfektionierter und damit dem Defekt kaum angepasster Form hergestellt und mit Fäden um den Kopf gebunden. Orbita- oder Ohrenprothesen dagegen wurden mittels Federn im Hohlraum verankert.

Nur wenige Menschen leisteten sich derartige Epithesen. Der gesichtsversehrte Normalbürger ließ seinen Defekt unverdeckt. Auch die ursprünglich im 16. Jahrhundert vereinzelt unternommenen Versuche einer operativen (plastischen) Gesichtschirurgie unterblieben in den folgenden zwei Jahrhunderten – vermutlich wegen der hohen Schmerzen und Infektionsrisiken und des geringen ästhetischen Erfolgs.

Ende des 18. Jahrhunderts sorgte die Geschichte des von der Syphilis verstümmelten Johann Beck für Aufsehen. Er vermarktete seine selbstgefertigte Obturatorepithese aus Schwamm und eine Nasenepithese aus Holz, indem er sich als „Anschauungsobjekt“ bei Ärzten auf Jahrmärkten gegen Geld zeigte. Ähnlich verdiente sich ein Schlosser seinen Lebensunterhalt mit einem Kinn aus Silber, das mit hautfarbenem Wachs überzogen war. Dieses Kinn besaß innen einen kunstvoll angepassten Schwamm gegen Speichelfluß. Kupferstiche belegten die einzelnen Schritte der Epithesentechniken und der Epithesenhalterung.

Der Beginn der modernen Epithesentechnik

Ende des 18. Jahrhunderts waren es Zahnärzte, die sich der Epithetik im Zuge der Neu- und Weiterentwicklung der Zahnprothetik regelmäßig und fachkundig annehmen. Mit der Zahnprothetik aus Porzellanmasse durch den Pariser Zahnarzt Nicolas Dubois de Chemant (1753 -1824) begann die moderne Zahn- und Epithesentechnik. Aus der Porzellanmasse ließen sich auch sehr gut anpassbare Gesichtsepithesen formen. Chemant fertigte Zähne, Obturatoren, Kinn-, und Nasenepithesen.

Nasenplastik aus dem Oberarm nach Tagliacozzi.
Patientin mit Nasendefekt und Gelatinenase nach Spitzer.

Schließlich kamen Kautschukepithesen im Mehrschichtverfahren an einem Gipsmodell geformt und fleischfarben eingefärbt zur Herstellung, so auch in Berlin durch den Königlichen Leibzahnarzt Pierre Ballif. Ballif studierte umfassend die Möglichkeiten einer haltbareren Befestigung der künstlichen Gesichtsteile.

Mit der Verbesserung der Epithesentechnik wurden auch mehrteilige Epithesen für Mehrfach-Defekte möglich. Überliefert ist die Geschichte eines französischen Kanoniers, der im französisch-belgischen Krieg 1832 große Teile seines Gesichts durch Granatsplitter verlor. Ein Feldarzt fertigte eine zur Nahrungsaufnahme und zum artikulierten Sprechen geeignete bewegliche Unterkiefer-Gesichtsmaske.

Nach dem Material Kautschuk wurde 1869 das leichte, gut formbare Zelluloid erprobt, später Aluminium und ab 1889 Porzellan und Glas für Augen, die an einer Brille befestigt wurden. 1913 kamen dann Gelatine-Prothesen zur Anwendung, die der Patient allerdings täglich mittels einer Gussform erneuern musste.

Kunststoffe und Computer: Der Weg in das neue Jahrtausend

Nach dem 2. Weltkrieg wurden die heute üblichen Kunststoffe wie zunächst Polyvinylchloride (PVC) und später Polymethylmetacrylate (PMMA) und Silikone als Werkstoffe eingesetzt. Durch ihre guten Form- und Trägereigenschaften sowie ihre hohe Ästhetik verdrängten sie fast schlagartig alle bis dahin bekannten Materialien.

Neben den Kunststoffen und Titan als besonders formbeständigem reizarmen Werkstoff für die Unterkonstruktion sowie hautverträglichen Klebstoffen führten die Fortschritte in der operativen Technik der kraniofazialen Chirurgie und der Implantologie in Form der Osseointegeration zu einer entscheidenden Verbesserung der Lebensqualität der Patienten. Implantat-Verankerungen über Steg-Reiter-Konstruktionoder Magnete gaben einer Epithese festen Halt und damit dem Patienten Sicherheit im Alltagsleben.

Mitte der 90er Jahre kamen im Zuge computergestützter Techniken hochverfeinerte und miniaturisierte bewegliche Epithesen erstmals bei Patienten zur Anwendung, so die weltweit erste bewegliche Augenepithese 1998[1] .

[1] in Berlin am Campus Virchow-Klinikum der Charité.

Literatur:
Prof. Dr. A. Renk (1997) 400 Jahre Gesichtsprothetik – Eine historische Übersicht zur Entwicklung der Epithesen.
Das Buch ist erhältlich: 
Schwipper V.,Tilkorn H.,Sander U (Hrsg): Fortschritte in der kraniofazialen chirurgischen Epithetik und Prothetik.Einhorn, Reinbek